Iannis Xenakis @ Werk Bauen Wohnen

Der französisch-griechische Architekt, Ingenieur und Komponist lannis Xenakis ist nach langer, schwerer Krankheit am 4. Februar dieses Jahres 78-jährig in Paris gestorben.

Er war der Vorreiter einer medialen Architektur, deren technologische Grundlagen er mitprägte.

In der ästhetischen Produktion des 70. Jahrhunderts gibt es einen faszinierenden Augenblick künstlerischer Synergie.

Ein Architekt, Le Corbusier, konzipiert ein Elektronisches Gedicht, eine elektronische Synthese von visuellen und akustischen Ereignissen, sowie ein „Gefäss für das Gedicht“ (einen Pavillon) zur Präsentation der Firma Philips an der Weltausstellung von 1958 in Brüssel.

Corbusier selbst arbeitet am visuellen Teil des Poème électronique, an der im Pavillon gezeigten Lichtschau aus assoziativ zusammengestellten, die Geschichte der Menschheit dokumentierenden Schwarz-Weiß-Stills, die von Licht- und Farbprojektionen überlagert sind.

Der Komponist Edgar Varèse ist für den akustischen Teil verantwortlich, ein „verräumlich-tes“ Musikstück mit dem Titel Poème Electronique.

Iannis Xenakis (1922-2001), der – ursprünglich zum Ingenieur ausgebildet – als Assistent von Le Corbusier arbeitet und später zum international anerkannten Komponisten avanciert, entwirft mit Le Corbusier zusammen die Be-tonschalenkonstruktion des Philips-Pavillons.

Veröffentlichung Iannis Xenakis @ Werk Bauen Wohnen, Deutschland, November 2001

Synthese
nach
Le Corbusier

Der Pavillon, als temporärer Bau geplant, wurde kurz nach Ende der Weltausstellung abgebrochen und allmählich verblasste die Erinnerung an diese einzigartige kreative Leistung, an dieses Zusammenwirken dreier künstlerischer Protagonisten des vergangenen Jahrhunderts. Für Le Corbusier allerdings hatte beim Pavillon die Architektur als solche nicht im Mittelpunkt ge-standen, er betrachtete diesen Bau hauptsächlich als Unterstützung, eben als „Gefäß“, für die visuellen und akustischen Projektionen in seinem Innern. Der architektonische Diskurs hatte Mühe, mit dem Aspekt der Mediatisierung, mit den visuellen und akustischen Ereignissen des Poème électronique umzugehen. Lange Zeit vermied es die Architekturtheorie, den Pavillon in ihre Forschungen einzubeziehen; er war nicht leicht zu erfassen oder einzuordnen, zumal seine Sprache als ein fremdes Element im Kontext von Le Corbusiers formalem Kanon erschien.

Die seit kurzem erfolgte Wiederentdeckung des Pavillons ist eng mit der Suche nach Vorbildern und Paradigmen für die Entwicklung der zeitgenössischen Architektur verknüpft. Der dynamische Ausdruck des Pavillons mit seinen hyperbolisch-paraboloiden und konischen Schalen fasziniert heute von neuem, da die Architektur ihr Vokabular durch komplexere, «fliessende» Formen erweitert hat. Im Licht mit dieser formalin Recherche, mit der Integration komplexerer Formen, angeregt durch die neuste Entwicklung digitaler Entwurfs- und Konstruktionsmittel, mit deren Hilfe sich dreidimensionale komplexe Strukturen realisieren lassen, wird noch immer nach der entsprechenden Ästhetik gesucht.

Selbst wenn sein auf die Technologie der Zukunft ausgerichteter modernistischer Optimismus überholt erscheint, übt Le Corbusiers Poème électronique als visuelles Ereignis weiterhin eine starke Faszination aus. Die elektronische Synthese der Künste, die die Firma Philips – als Pionierin in der Entwicklung mediatisierter Umgebungen (von Licht und Ton bis zu den heutigen «intelligent» vernetzten Geräten und Materialien) – repräsentiert, ist ein frühes Beispiel für eine “Gefäß”- oder besser «Container»-Architektur im komplexen, vielschichtigen Raum des (Medien-) Flusses. Er ist ein frühes Vorbild „hybrider“ Räume, bei denen das Virtuelle in unsere taktile Welt hineinprojiziert wird und so eine Verbindung von digitalen und analogen Umgebungen er-zeugt, bei denen visueller, akustischer Raum mit dem materiellen Ort verschmilzt.

Zwar war die Synthese der Künste in Le Corbusiers ganzheitlichem Ansatz angelegt, doch ist sie in dieser Gestalt innerhalb seines architektonischen Werkes einmalig geblieben. Xenakis jedoch setzte sowohl im Bereich komplexer architektonischer Formen als auch in jenem komplexer ephemerer Musik- und Klang-Architekturen seine Untersuchungen fort. Er arbeitete an einer „Poetik des elektronischen Zeitalters“, indem er die durch den Computer eröffneten Möglichkeiten in sein künstlerisches Schaffen einbezog.

Transfer

Xenakis‚ persönlicher entwerferischer Beitrag in Le Corbusiers Büro war ein ganz spezifischer:

Er konzipierte Elemente, die das Licht einfangen, leiten und verwandeln. Für das Kloster La Tourette zum Beispiel zeichnete er die rhythmisch gegliederte Fassade, die „pans de verre ondulatoires“ und die Oberlichter, die Lichtkanonen.

Diese „Lichtarchitekturen“ entwickelten sich später in Xenakis‚ Klang- und Lichtinszenierungen weiter: in den Polytopes – das Wort bezeichnet die Überlagerung von Musik und Licht, sodass zahllose sich ständig verändernde, asynchrone Orte entstehen – oder auch in Le Diatope, einer Kombination von Klang- und Lichteffekten in einem eigens zu diesem Zweck entworfenen Pavillon.

Xenakis‚ (materielle) architektonische Produktion hielt sich in Grenzen. Aber er suchte in seinen architektonischen Entwürfen, beispielsweise dem städtebaulichen Vorschlag für die Ville Cosmique (1964), in Le Diatope (Paris/Bonn 1978-1979) oder seinem Wettbewerbsbeitrag für die Pariser Cité de la Musique (1984) beharrlich nach der – im volumetrischen Sinne – dreidimensionalen komplexen architektonischen Form.

Die meisten dieser Entwürfe beruhten auf hyperbolischen Paraboloiden, die er bereits beim Philips-Pavillon verwendet hatte. Mit gerasterten Oberflächen, mit hyperbolisch-paraboloiden und konischen Formen war Xenakis als Ingenieur vertraut. Diese sind nicht nur in ihrer Kontinuität und Komplexität formal bemerkenswert, sondern in der Art, wie sie Xenakis strukturell vom einen auf ein anderes Gebiet überträgt: vom Ingenieur-wesen auf die Musik, von der Musik auf die Architektur. Bevor er am Philips-Pavillon arbeitete, hatte er hyperbolisch-paraboloide Strukturen als Berechnungsgrundlage für seine Komposition Metastasis (1953-1954) verwendet: Strichdia-gramme, die die an- und abschwellenden Tone jedes einzelnen Instrumentes darstellen, bei denen die Glissandi, gekurvte, gerasterte Klang-Oberflächen bilden. Auch in seiner Klang- und Lichtinszenierung Polytope in Montreal (1967) schuf Xenakis durch die Anordnung der Stahlkabel, an denen die Lampen befestigt waren, hyperbolisch-paraboloide Oberflächen.

Seine zweifache Sensibilität für Architektur und Musik befähigte Xenakis dazu, musikalische Form auf architektonische Weise anzugehen und Architektur als ein Gefüge von (dynamischen) Beziehungen zu komponieren. Indem er dieselben (intellektuellen) Strukturen auf zwei unterschiedliche Gebiete anwandte, eröffnete sich Xenakis der Weg zu seiner Strategie, mathematisch-wissenschaftliche Ansätze auf seine künstlerischen Prozesse zu übertragen. Er machte sich eine ganze Reihe von „Transfers“ aus der mathematisch-wissenschaftlichen Welt als Gestaltungsgeneratoren zunutze, so zum Beispiel die – bei Gasmolekülen beobachtete – Brownsche Bewegung, die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie (stochastische Rechnungen), die Gruppen- und Chaostheorie.

Xenakis‚ Übertragung und Verwendung naturwissenschaftlich-mathematischer Methoden

dient somit zu mehr als nur zur praktischen Lösung des Problems, die dynamische Gestaltung von Klang- und Lichtereignissen zu bewältigen, die Massen der «Klangwolken» und „Lichtgalaxien“ zu ordnen, die er kompositorisch verfolgte. Es handelt sich dabei vielmehr um einen grundlegenden Zugang zur Kunst, um eine Art Weltanschauung. So schreibt Xenakis: “Musik ist eine Matrix für Ideen, für energetische Vorgange, für Denkprozesse, für Überlegungen zur physikalischen Realität, die uns erschaffen hat und erhält (…], Ausdruck unserer Visionen vom Universum, seinen Wellen, seinen Verzweigungen, seinen Menschen ebenso wie für die grundlegenden Theorien der theoretischen Physik, der abstrakten Logik, der modernen Algebra (…], Musik ist Welt-Harmonie, verkörpert im Lichte des gegenwärtigen Denkens.”

In diesem Zusammenhang ist eine weitere Erfindung von Xenakis zu sehen: In den Sechzigerjahren begann er einen eigenen Computer zu entwickeln. Diesen setzte er ein, um die Überschneidungen von musikalischen und visuellen Ereignissen (Polytopes) zu kontrollieren und zu (de-)synchronisieren, integrierte ihn aber zugleich in sein Kunstschaffen, um seine komplexe Musik zu komponieren. Dieses digitale Werkzeug ist ein Musik-Computer mit einem Reißbrett als Schnittstelle, dass eine zeichnerische Information unmittelbar in Musik und Klang umzusetzen vermag. In dieser Verbindung von Visuellem und Akustischem durch mathematische Information widerspiegelt sich Xenakis ganzheitlicher Zugang zur Form, die er in unterschiedlichen Medien und Dimensionen, in Klang, Licht, Zeit und Raum materialisiert.

1 Xenakis, Iannis, Musique-Architecture, 2nd ed., revised and enlarged (Paris: Casterman,1976), p. 16.

Morphologie
générale

Die hyperbolischen Paraboloide der Schalen des Philips-Pavillons oder der Glissandi-Knäuel von Metastaseis sind dreidimensional bewegte Ober-flächen, die dadurch entstehen, dass man eine Gerade Kurven entlang gleiten lässt. Xenakis schreibt über die gerasterten, geregelten und kontrollierten doppelt gekurvten Oberflächen:

„Die Gerade lässt die Vorstellung sehr komplexer Formen mit sehr einfach zu kontrollierenden Elementen zu.» Für den Ingenieur Xenakis gibt also es keine «freien» Formen; gekurvte Oberflächen können mathematisch/geometrisch erfasst werden, ihr strukturelles Verhalten ist bestimmt. Die Architekturtradition des 20. Jahrhunderts hingegen, die ihrerseits stark vom Corbusianischen Kanon beeinflusst wurde, stellt die «rationale» (rechtwinklig gerasterte) Form der „freien, irrationalen“, unkontrollierten Kurve gegenüber. Gefangen in diesem Gegensatz zwischen der „rationalen“, einfachen geometrischen Form und der unkontrollierten, komplexen, „irrationalen“ Volumetrie, ist die architektonische Terminologie sehr ungenau in der Beschreibung gekurvter Volumen. Obschon dieser Gegensatz seither längst überwunden ist, da Naturwissenschaft und Mathematik Komplexität und Unregelmäßigkeit in ihren rationalen Ansatz einbezogen haben, entwickelt die Architektur erst jetzt eine entsprechende Sprache. In eben diesem Umfeld hat sich Xenakis für die Entwicklung einer allgemeinen Disziplin der Form eingesetzt: „Es ist an der Zeit, der neuen Wissenschaft einer „morphologie générale“ zum Durchbruch zu verhelfen, die sich mit den Formen und der Architektur dieser verschiedenen Disziplinen in ihrer immer gleichbleibenden Erscheinungsform befasst wie auch mit den Gesetzen, die ihre Transformationen bestimmen.“

Bei seiner Beschäftigung mit einer Architektur der Ereignisse lässt Xenakis einen anderen Ansatz bezüglich der dynamischen Wahrnehmung von Architektur erkennen als ihn Sigfried Giedion in «Raum, Zeit, Architektur» formuliert hat.

Giedion verweist, noch ganz in der Tradition der gerahmten Bilder des Englischen Gartens, auf die Relativität von Raumfolgen von materieller Architektur. Xenakis, der innerhalb von viel-schichtigen, multimedialen Umgebungen arbeitet, ist an einer globalen Sicht interessiert, der intellektuellen (Re-)Konstruktion von Form und Struktur.

Zeitgenossen von Xenakis wie etwa die Situationisten oder die Gruppe Archigram sind in die Architekturgeschichte eingegangen, weil sie die Mediatisierung des Raums untersucht haben. Ihr hedonistisch-subversiver Ansatz fußte in einem ausgeprägten Interesse für den sozialen (kommunikativen) Aspekt der Medien, wie dies in der Pop(ulär)-Kultur der Fall ist. Anders Xenakis, der in einer idealistisch-humanistischen Tradition stand. Seine Anleihen, die sich in einem musikalischen, räumlichen und visuellen Opus ausdrücken, reichten von der klassischen griechischen Philosophie bis zu den zeitgenössischen Naturwissenschaften.

Ein letzter „homo universalis“?

2 Xenakis, Iannis, arts/sciences alliages (Tournai: Casterman, 1979), p. 108.
3 Xenakis, Iannis, Kéleütha (Paris: L’Arche, 1994), p. 17.
4 Xenakis, Iannis, arts/sciences alliages, p. 97.

Die Breite von Xenakis‚ Architekturen, kombiniert mit der Konsistenz seines Ansatzes innerhalb seines musikalischen, räumlichen und visuellen Werks, könnte die Erweiterung der Architektur in komplexe dynamische Formationen und Prozesse unterstützen. Sie könnte die Dynamisierung der Architektur durch technologische Entwicklungen, wie sie zu Beginn dieses Artikels beschrieben wurden, unterstützen, indem sie den Bezug zu einem konsistenten intellektuellen Ansatz und einer Vision herstellt.

Die Architektur kann von Xenakis‚ Werk profitieren, von seinem architektonischen/räumlichen Werk, aber auch von seinem musikalischen/visuellen Werk, seinen Notationen und Schriften.

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