Wie Menschen rund um den Globus miteinander kommunizieren und in Kontakt treten, wird gegenwärtig von der Digitalisierung radikal neu definiert.
Da deren Beschleunigung eine der offenkundigsten Folgen der Pandemie darstellt, erfährt die Nutzung digitaler Tools auch im Kunst- und Kulturbetrieb und den einschlägigen Einrichtungen einen beispiellosen Auftrieb.
Publikation Hybrid @ tanz Jahrbuch 2022, Deutschland, 15 August 2022
Ein Blick in die Zukunft künstlerisch-kultureller Räume macht es erforderlich, physische Räume im Zusammenhang mit den digitalen Mediennetzwerken zu denken. Polyphone Hybridkulturen sind in physischen Räumen verankert bzw. in diese eingebettet; zugleich werden sie zunehmend über digitale Netzwerke geteilt, gestaltet, verbreitet, geformt und verhandelt. Im Zuge der anhaltenden Verschmelzung der physischen und digitalen Sphäre treten neue Szenarien und neue Formen der Erfahrung von bzw. Mitwirkung an künstlerisch-kulturellen Lebenswelten zutage.
Nachhaltigkeit und die Reduzierung des ökologischen Fußabdrucks sind Ziele, deren Erreichen maßgeblich vom Vermeiden und Einschränken der physischen Mobilität abhängt. Folglich sind wir angehalten, sinnvolle Optionen der Verknüpfung von physischer Nähe und digital überbrückter Distanz auszuloten und das jeweils Beste aus zwei Welten – der physischen und der medialen – herauszufiltern. Es gilt, diese Dimensionen intelligent und effizient miteinander zu verbinden, um einprägsame Erfahrungen zu generieren, kreative Interaktionen zu ermöglichen und Reichweite zu fördern.
Der berühmte griechisch-französische Komponist, Medienkünstler, Architekt und Ingenieur Iannis Xenakis (1922–2001), der im vergangenen Mai 100 Jahre alt geworden wäre, arbeitete an einer «Poetik des Elektronischen Zeitalters», wie er sie selbst nannte, indem er Musik, Licht-Klang-Inszenierungen («Polytope») und Architektur miteinander verknüpfte und die neuen, universellen elektronischen Computer-Tools in sein künstlerisches Werk integrierte. Xenakis plädierte für die Schaffung einer Fachdisziplin der Form, einer «Allgemeinen Morphologie» – ein Bestreben, das seinem ganzheitlichen Denken und seiner transdisziplinären Praxis entsprach.
Xenakis setzte den Computer ein, um die Überlagerungen von musikalischen und visuellen Ereignissen («Polytope») zu steuern und zu (de-)synchronisieren. Er integrierte ihn in seinen schöpferischen Prozess als Hilfsmittel zur Erzeugung und Steuerung komplexer Kompositionen. Eigens zu diesem Zweck begann Xenakis in den späten 1960er-Jahren mit der Entwicklung eines maßgefertigten Computers. Dieses digitale Werkzeug ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil es aus einem Musik-Computer besteht, der sich auf das traditionelle Reißbrett als Schnittstelle stützt und so grafische Informationen direkt in Musik und Klänge übersetzt.
Besonders interessant ist Xenakis’ Konzeption dieser Schnittstelle. Sein Musik-Computer basiert nämlich keineswegs nur auf dem Programmieren von Informationsinhalten. Da zum Manövrieren des Reißbretts physische Bewegung vonnöten ist, reagiert Xenakis‘ musikalische Schnittstelle auf körperliche Intuition, korrespondiert also mit ihr. Selbst wenn mathematische Informationen die faktische Brücke zwischen den zwei Ausdrucksformen – der visuell-grafischen und der akustischen, klanglich-musikalischen – darstellen, verankert die körperliche Einbindung von Emotion und Bewusstsein den kreativen Prozess im somatischen, physischen Raum.
Die verbindende Brücke stellte aber dennoch das Digitale dar, indem es mittels mathematischer Informationen die visuelle in die akustische Form überführte. Dies spiegelte Xenakis‘ ganzheitlichen Ansatz – seine Materialisierungen über die Grenzen so unterschiedlicher Medien und Dimensionen wie Klang, Licht, Zeit und Raum hinweg – wider.
In seinen zukunftsweisenden Arbeiten erfuhr Xenakis‘ Kreativität also durch sein rechentechnisches Werkzeug Unterstützung, und er erkannte ein Hauptmerkmal seines neuen allgegenwärtigen und universalen Tools in dessen Eigenschaft als radikalem «Verbinder». Heute wird schöpferisches Produzieren in seinen vielfältigsten Ausdrucksformen – Musik, Bildende Kunst, Architektur, Video etc. – von einem einzigen Werkzeug gestützt: dem Computer. Dieses universelle Instrument bildet die Brücke, die die äußerst unterschiedlichen kreativen Bereiche miteinander verbindet.
Dies setzt den anhaltenden Trend der wechselseitigen Verschmelzung der künstlerischen Arbeitsfelder fort und beschleunigt ihn. Seit den späten 1960er-Jahren transzendiert zeitgenössisches Kunstschaffen die Grenzlinien der traditionellen künstlerischen Medien, etwa der Bildhauerei oder der Malerei, und tritt mithin in den im Jahr 2000 von Rosalind Krauss beschriebenen «postmedialen Zustand» ein. Malerei und Bildhauerei begegnen Video, Film, Performance, Theater, Tanz, Musik, interaktiven Medien; Digitalkunst und diverse Medien verschmelzen ihrerseits innerhalb einzelner Kunstprojekte. Medienspezifität ist für die Produktion von Kunst also keineswegs mehr bestimmend. Die verschiedenen Künste verschmelzen miteinander.
Hybridisierungen künstlerischer und kultureller Praktiken erleben wir heute in verschiedenen Dimensionen. Unterschiedliche Medien finden in einem künstlerischen Oeuvre zusammen. Kunst- und Kulturschaffende arbeiten an transdisziplinären Forschungsprojekten. Gleichzeitig integrieren sie virtuelle Tools und Räume in ihre Arbeiten. Hybridität durchdringt die Kultur, indem sie ihre Unterschiede, Methoden und Rollen verwischt und die Trennlinien zwischen Disziplinen und Ansätzen, zwischen Kulturschaffenden und Rezipienten aufhebt. Die Entstehung solch hybrider Schaffensprozesse verlangt eine neue – eine hybride – Betrachtungsweise.
Somit sind transdisziplinäre Räume für den wechselseitigen Austausch gefragt, Räume wie das von Hybrid Space Lab ins Leben gerufene INbetweenSTITUTE, welches als Bindeglied zwischen den verschiedenen Kunst- und Kulturinstitutionen fungiert und für kulturelle Einrichtungen, Kunstschaffende, Laien und Publika eine transdisziplinäre Plattform zur gemeinsamen Gestaltung kultureller Innovationsprozesse darstellt. Das INbetweenSTITUTE versteht sich als nicht-disziplinärer Ort, an dem sich erleben lässt, wie kulturelle Innovation stattfindet und sich entfaltet. Programmatisch fördert es Austausch und wechselseitige Bereicherung, indem es professionelle Kunst- und Kulturschaffende aus überaus unterschiedlichen Kreativbereichen mit Wissenschaftler*innen und Expert*innen, Aktivist*innen, Unternehmer*innen und Entscheidungsträger*innen zu transdisziplinären, internationalen Begegnungen und Workshops einlädt.
Mit Blick auf die Anforderungen, die an Räume als Begegnungsorte transdisziplinärer künstlerischer Prozesse gestellt werden, hat das Hybrid Space Lab ferner Typologien für Veranstaltungsorte hybrider künstlerischer Praktiken – etwa Fusionen der Darstellenden und Bildenden Künste – entwickelt. So erstellten wir 2014 im Rahmen eines Auftrags zur Neugestaltung des Beijinger Kunstbezirks 798, von dem später noch ausführlicher die Rede sein wird, eine typologische Studie für ein Performing Arts Center als hybride Kultureinrichtung für postmediale Kunst. Während eine von der Außenwelt abgeschottete «Höhle» im Untergeschoss des Komplexes als Produktions- und Präsentationsraum dient, öffnet sich das Erdgeschoss dem öffentlichen Raum und stützt zugleich die Konstruktion eines interaktiven Dancefloors, der sich flexibel an wechselnde Anforderungen sowie unterschiedliche Performer anpasst. Dieses Modell eines interaktiven, flexibel reagierenden hybriden Raums für transdiziplinäre Kunst, der sich seiner urbanen Umgebung öffnet, ermöglicht außerdem die Einbindung der Öffentlichkeit und der Stadtnutzer*innen in den gemeinsamen künstlerisch-kulturellen Schöpfungsprozess.
Neben dem Zusammenfluss und der Verschmelzung der künstlerischen Bereiche im hybriden schöpferischen Produktionsprozess erleben wir gleichzeitig eine weitere Hybridisierung, nämlich die Fusion der Kunst- und Kulturschaffenden und ihrer Konsumenten in der künstlerisch-kulturellen co-kreativen Kollaboration. Da die Digitalisierung den Übergang von zentralisierten zu interaktiven, dezentralen Sozialen Netzwerken möglich macht, erlaubt dies auch eine Verknüpfung komplexer dynamischer Netzwerk-Systeme mit prozessorartigen Strukturen in den Künsten. Letztere stellen in diesem Zusammenhang integrale Elemente dar, die den künstlerischen Ausdruck in die sozialen Beziehungsnetzwerke einbetten.
Digitale Tools und Netzwerke unterstützen solche Prozesse vielstimmiger künstlerischer Kollaboration, welche ihrerseits in physischen Räumen verankert bzw. eingebettet sind und zugleich zunehmend in translokalen Mediennetzwerken ausgestaltet und verhandelt werden.
Wie nun sollen kulturelle Einrichtungen darauf mit neuen hybriden (physisch/digitalen) Räumen und Formaten reagieren? Was könnten mögliche Formate sein, die die (privaten) Räume von Künstler*innen und Performer*innen mit den öffentlichen Räumen des co-kreativ mitgestaltenden Publikums verbinden? Wie könnten Infrastrukturen und Plattformen online- und Live-Publika unterstützen und kreative Kollaborationen im hybriden Raum befördern? Mit Blick auf diese Fragen hat das Hybrid Space Lab im Zusammenhang mit dem bereits erwähnten Projekt für das Beijinger Kunstviertel 798 Modelle einer hybriden Infrastruktur für eine kombinierte online- und Vor-Ort-Kollaboration sowie die Einbeziehung der Öffentlichkeit entwickelt.
Der Beijinger Kunstbezirk 798 bildete mit seinen auf einem Fabrikgelände befindlichen Museen, Galerien und Studios jahrelang den bedeutendsten Kunstkomplex Chinas. Er entwickelte sich immer mehr zu einem Touristenmagneten, was sein exklusives Image freilich zunehmend schwächte. Im Jahr 2014 wurden wir eingeladen, Vorschläge für ein neues Branding des Quartiers sowie für neue Museumsräumlichkeiten einzureichen. Allerdings schlugen wir den in Beijing ansässigen Entscheidungsträger*innen vor, weniger markenorientiert zu denken, sondern den Blick vielmehr auf Prozesse und Kommunikationsräume zu richten; wir plädierten für eine prozessorientierte Strategie, die die Stärkung kreativer Netzwerke und ihre Verankerung im Stadtgefüge in den Fokus nahm.
Wir entwickelten Modelle für Räume an der Schnittstelle der privaten Räume der künstlerischen Produktionsstätten (Ateliers, Studios) und der öffentlichen Publikumsräume (Showrooms, Museen, Galerien, Theater oder Konzertsäle); gedacht waren diese «Zwischenräume» als eine Infrastruktur, die die Mitwirkung und Einbindung der Öffentlichkeit ermöglicht und fördert.
Das Projekt sah darüber hinaus ein hybrides modulares und mobiles System vor, das die Stadt durchqueren kann, um ihre Bewohner*innen in eine aktive Teilhabe einzubinden. Dieses Modell wurde – etwa im Rahmen eines Creative-Europe-Projektes – weiterentwickelt: für co-kreative Workshops in diversen europäischen Städten, welche im öffentlichen Raum stattfinden können und somit eine aktive online-Partizipation internationaler Künstler*innen und Expert*innen ermöglichen. Eine solche modulare und mobile Infrastruktur (z.B. auf Dreirädern, die im Eigenbau als modulare, ausbaufähige Lastenräder dienen) stellt ein nachhaltiges gemeinschaftliches Nutzungsmodell dar. Auf dem Prinzip der Kreislaufwirtschaft basierend, ist es überdies für kleinere, dezentrale Kultureinrichtungen relevant, da es hybride (online/Vor-Ort) co-kreative Prozesse unterstützt.
Das Hybrid Space Lab verfügt über langjährige Erfahrungen mit hybriden Räumen und Formaten und erprobt bzw. evaluiert co-kreative Veranstaltungen wie etwa im Oktober 2021 den hybriden Workshop «The Future is not Digital. Hybrid is the Future!» der Kulturstiftung des Bundes. Dieser fünfstündige Workshop fand in den Räumlichkeiten des Hybrid Space Lab in Berlin statt und bot Gelegenheit, unter Verwendung der spezifischen Tools eines hybriden Design-Studios mit co-kreativen Prozessen zu experimentieren. An dem hybriden Workshop nahmen 20 Teilnehmer*innen vor Ort sowie 35 Teilnehmer*innen online teil: interaktiv und im Gedankenaustausch über die Potenziale des neuen Formats, das sie gerade umsetzten und miterlebten.
Die für hybride (online/Vor-Ort) Kreativformate im Wechselspiel des Physischen und des Digitalen entscheidenden Fragestellungen – etwa Kameraführung, performative Eigenschaften, visuelle Intelligenz sowie die zahlreichen Dimensionen von Klang und Raum – waren von der transdisziplinären Expertise der Teilnehmer*innen geprägt. Da diese über äußerst unterschiedliche künstlerische und kulturelle Hintergründe verfügten, wurden die gemeinschaftlich genutzten hybriden Räume gleichzeitig aus den verschiedensten Blickwinkeln heraus erprobt.
In den aufkommenden hybriden (physisch/digitalen) Räumen sind freilich auch die Körper «hybridisiert». Immersive Technologien der Bilderzeugung, die computergenerierte Bilder und Klänge verwenden, integrieren digital erschaffene menschliche (oder «mehr-als-menschliche») Wesen als virtuelle Schauspieler*innen.
Ein Beispiel: Das Volucap Studio in Potsdam-Babelsberg – ein Gemeinschaftsprojekt von u.a. Wissenschaftler*innen des Berliner Fraunhofer-Instituts für Nachrichtentechnik, Heinrich-Hertz-Institut, HHI mit Technologiefirmen, der UFA GmbH und der Studio Babelsberg AG – entwickelt derzeit für den Special-Effects-Markt ein digitales Archiv von holografisch eingescannten Schauspieler*innen.
Im Volucap Studio werden Schauspieler*innen von allen Seiten aufgenommen und mit Hilfe von 3D-Technologien zur Rekonstruktion menschlicher Körper als lebensechte Avatare archiviert. Hierzu zeichnen 32 auf einer Rotunde installierte HD-Kameras zeitgleich sämtliche Bewegungen und Gesichtsausdrücke der Schauspieler*innen auf, selbst Details wie die Bewegungen der Iris werden festgehalten, ebenso jeder noch so kleine Faltenwurf von Kleidungstücken. Außerdem kann das in der Rotunde installierte ausgeklügelte Beleuchtungssystem unterschiedliche Lichtsituationen auf die Schauspieler*innen projizieren, von warmem Kaminschein bis hin zum Blaulicht eines Polizeiwagens. Die Daten der lebensechten Avatare werden sodann weiterverarbeitet, um ihre Bewegungen in virtuelle Umgebungen oder zuvor aufgenommene physische Räume einzubetten.
Ferner werden Körper in digitalen (vernetzten) Räumen erweitert – «augmentiert» –, etwa indem echte Schauspieler*innen und Tänzer*innen, in Echtzeit animiert, in Motion-Capture-Anzügen performen und spontan mit virtuellen Umgebungen und ihrem verstreuten online-Publikum interagieren. Eine «Sommernachtstraum»-Produktion der Royal Shakespeare Company von 2021, in deren Rahmen die Figur des Puck durch einen magischen Wald streifte, wurde dem Publikum per Live-Stream übermittelt; dieses folgte den Avataren mit ihren von echten Schauspieler*innen generierten Bewegungen und Stimmen durch die virtuellen Welten. Die Produktion war das Ergebnis einer mehrjährigen Forschungs- und Entwicklungskollaboration mit dem in London ansässigen Kreativstudio Marshmallow Laser Feast mit dem gemeinsamen Ziel, mit Hilfe digitaler Tools innovative Methoden der Publikumsbindung zu entwickeln.
Der Wald bestand hierbei aus einer zuvor entworfenen virtuellen Umgebung, welche Bilder von Pflanzen, die Shakespeare in seinem Drama erwähnt und die zur Zeit der Entstehung des Stücks in englischen Wäldern vorkamen, integrierte. Motion-Capture-Kameras zeichneten die Bewegungen und Gesichtsausdrücke der Performer*innen auf, die ihrerseits von großen LED-Screens umgeben waren und so nachvollziehen konnten, wo sich ihr jeweiliger Avatar gerade im virtuellen Zauberwald befand – nahe dem Wurzelwerk, im Geäst oder im Flug über den Baumkronen.
Und doch handelte es sich um ein Echtzeit-Setting; die Darsteller*innen performten mit Gesichts-Rig und Motion-Capture-Anzügen und wurden in Echtzeit animiert, während das Stück für das Publikum gespielt und live gestreamt wurde. Die Akteur*innen hatten zahlreiche Möglichkeiten, miteinander – oder mit Steinen, Wurzeln oder Ästen – zu interagieren; zudem konnten sie mittels ihrer Bewegungen den Soundtrack des Stücks beeinflussen, da die verschiedenen Instrumente im Vorfeld (vom Londoner Philharmonia Orchestra) einzeln aufgezeichnet worden waren.
Schließlich konnte das Publikum aktiv am Stück partizipieren: Virtuelle Glühwürmchen ließen sich aus privaten Wohnzimmern heraus online über simple Schnittstellen wie Computermaus, Trackpad oder Touchscreen steuern und konnten so mit den Darsteller*innen interagieren – etwa, wenn sie Puck den Weg durch den virtuellen Wald wiesen, indem sie diesen erleuchteten.
Interaktive Echtzeit-Performances dieser Art ermöglichen ein hohes Maß an Spontanität, Improvisation und unerwarteten Zufallssituationen und haben zur Folge, dass jede Vorstellung ihre Einzigartigkeit – und somit die Authentizität und das Stegreif-Moment herkömmlicher, im Theaterraum gezeigter Vorstellungen – bewahren kann.
Diese aktive Partizipation des Publikums über räumliche Entfernungen hinweg basiert auf der den digitalen Netzwerken inhärenten Eigenschaft, den Übergang vom zentralisierten Sender-Empfänger-Modell («einer an viele») hin zu interaktiven, dezentralen co-kreativen Netzwerken («viele an viele») zu ermöglichen.
Der digital vernetzte Raum mit seinen Datenströmen erfuhr 1995 durch die Performance «Ping Body» des zypriotisch-australischen Medien- und Performance-Künstlers sowie Hybrid-Pioniers Stelarc eine durchaus poetische Interpretation: Stelarc (eigentlich Stelios Arcadiou) ließ seinen Körper via Internet fernsteuern. Ein auf mehrere Orte verteiltes Publikum (Amsterdam, Helsinki, Paris) erhielt mittels eines computergekoppelten Muskelstimulationssystems Zugriff auf Stelarcs Körper, konnte ihn also sehen und in Bewegung versetzen. Diese kollektive Internet-Aktivität stimulierte Stelarcs Körpereigenwahrnehmung und Muskulatur und erzeugte so einen «ungewöhnlichen» Tanz. Parallel dazu lud Stelarc mit einer «Dritten Hand» – einem Roboter, den er selbst steuern konnte – Bilder seiner Performance hoch, die von einem weltumspannenden Publikum betrachtet wurden.
Stelarc experimentierte also mit der Erweiterung des menschlichen – in diesem Falle seines eigenen – Körpers, indem er dessen Fähigkeiten an der Schnittstelle Mensch/Maschine durch Prothetik und Robotik augmentierte. Ähnliche Praktiken entsprechen gegenwärtig dem neuesten wissenschaftlichen Stand auf dem Feld der Medizin: Operativ im oder am Schädel platzierte Hörimplantate sind ein Beispiel. Kulturelle, politische und ethische Fragen wirft derweil Elon Musks Neurotechnologie-Unternehmen Neuralink mit seinem Brain/Computer-Interface auf. Die Firma behauptet, einen Affen mit Hilfe von Gehirnströmen, die drahtlos an ein implantiertes Empfangsgerät gesendet wurden, in die Lage versetzt zu haben, ein Videospiel zu spielen.
Die Forschung an der Schnittstelle von Gehirn und Computer hat sich darüberhinaus zum Ziel gesetzt, Menschen mit körperlichen Behinderungen zu helfen, etwa vollständig oder teilweise Querschnittgelähmten, indem sie diesen Möglichkeiten zur Fernsteuerung digitaler Geräte eröffnet. Auch im Rehabilitationsbereich können technologische Hilfsmittel Menschen dabei behilflich sein, Verletzungen zu bewältigen oder ihre biologischen Fähigkeiten zu erweitern. Rehabilitationsrobotiker entwickeln Prothesen oder äußere Stützstrukturen wie Exoskelette, die durch Motoren angetrieben dem Körper zusätzliche Beweglichkeit, Kraft und Ausdauer verschaffen. Forschende an der Universität von Melbourne gehen noch weiter: Sie haben – zunächst an Schafen und inzwischen auch an Patienten mit Lähmungen – Apparaturen getestet, die das menschliche Bewusstsein zur Steuerung von Exoskeletten via Brain/Computer-Schnittstellen nutzen.
Die Verinnerlichung digital vernetzter Systeme – in den Körper – entspricht der Verlagerung des Bewusstseins ins Äußere – in mediale Räume. Unsere Identitäten werden vermehrt in digital vernetzten Räumen ausgelebt und geformt. Die Sozialen Medien gestatten die Konstruktion multipler Selbst-Bilder. Anders ausgedrückt: Unsere im Physischen verankerten Kulturen werden in translokalen Medien-Netzwerken geprägt und verhandelt.
Die digital vernetzte Kultur unserer Gegenwart sickert bis in unsere physische Existenz hinein und beeinflusst, wie wir unser körperliches Dasein gestalten. In der heutigen Selfie-Kultur steht in vernetzten Räumen wie etwa Instagram unser Gesicht für unsere Identität. Der digitale Auftritt wirkt sich auf unser physisches Dasein aus, zum Beispiel wenn Mädchen im Teenager-Alter versuchen, Kim Kardashian nachzuahmen. Mittels Make-up, das auf die Entfernung einer Armlänge erstellter Selfies abgestimmt ist, bemühen sie sich, dem ästhetischen Kanon von Instagram zu entsprechen, und folgen damit einem Phänomen, das man als «Kim-Kardashianisierung» bezeichnen könnte.
Die Spiegelwand im Tanzstudio, Kontrollinstrument bei der Disziplinierung des Tänzer*innenkörpers, ist Nachhall und buchstäblich Spiegelbild der «Galerie des Glaces» im Schloss von Versailles. Während der Spiegelsaal des 17. Jahrhunderts als Instrument zur Kontrolle der Performanz der Adligen diente, lassen sich analoge Phänomene heute auch in unserem Alltag ausmachen, wenngleich sie auf gänzlich anderen, technologisch komplexen Methoden wechselseitiger Überwachung und Kontrolle beruhen: Eine Vielzahl von Social-Media-Plattformen und -Formaten stellt sicher, dass Menschen permanent daran erinnert werden, was in den Sozialen Medien als gutes Profil, als gutes Erscheinungsbild, als gute äußere Form sowie als ästhetische Etikette gilt. Auf TikTok beispielsweise werden spezifische Social-Media-konforme und angemessene Körperbewegungen und Gesichtsausdrücke nicht zuletzt mit Hilfe der typischen Kameraposition kontrolliert, diszipliniert und reproduziert.
All diese Gedanken und Beobachtungen führen uns zu dem Fazit, dass das Wechselspiel von physischen Räumen und digitalen Netzwerken es erforderlich macht, bei der Kartierung des menschlichen und mehr-als-menschlichen Vordringens ins Territorium des Hybriden neue Wege zu beschreiten. Die Trennung zwischen Darsteller*in, Performance und Publikum steht dabei radikal in Frage. Und noch etwas erscheint geboten: ein radikales Nachdenken darüber, wie unsere physischen und digitalen Präsenzen virtuelle, nichtvirtuelle und hybride Räume bewohnen und diese, indem sie sie bewohnen, kontinuierlich gestalten und definieren.
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